Die Angst verschwand

 

Einmal fuhr ich in einem Auto durch die kalifornischen Berge, von Los Angeles nach San Francisco. Es ist ein schwacher Punkt bei mir, dass ich mich fürchte, wenn ich mit Amerikanern durch die Berge fahre, denn meistens fahren sie mit ganz gehöriger Geschwindigkeit. Neben der Fahrstraße befand sich ein Abgrund, und außerdem hatte sie viele Haarnadelkurven.

 

Aus Erfahrung wusste ich, was ich machen musste, wenn der Angstdämon in mein Herz kam. In der Gefängniszelle hatte ich ihn oft zu Besuch, und dann fing ich an zu singen. Singen half immer.

 

Auch jetzt sang ich ein Lied nach dem andern, und der Fahrer, der Besitzer des Autos, fragte mich neckend: "Haben Sie Angst?" "Ja", sagte ich, "und deshalb singe ich."

 

Aber es hatte diesmal nicht viel Erfolg. Jedesmal, wenn wir uns einer Kurve näherten, dachte ich: "Wenn nun ein Auto von der entgegengesetzten Seite kommt, dann gibt es einen Zusammenstoß", und erschrocken hörte ich auf zu singen.

 

Nein, singen nütze nicht. Ich versuchte zu beten, aber immer war es das Gleiche: "Herr, bringe uns wohlbehalten nach San Francisco. Gib, dass wir nicht in diesen Abgrund stürzen, und gib bitte, dass bei der Kurve da uns kein Auto von der anderen Seite kommt."

 

Ich betete fortwährend gegen meine Angst, und dann - ich weiß nicht, wie ich auf den Gedanken kam - fing ich an, für andere zu beten, für jeden, der mir in den Sinn kam: für die Menschen, mit denen ich gereist war, mit denen ich im Gefängnis gesessen hatte, mit denen ich zur Schule gegangen war. Ich weiß nicht, wie lange ich betete; aber ich weiß, dass ich mich nicht mehr fürchtete. Durch die Fürbitte war ich von meiner Angst befreit worden.

(Corrie ten Boom (1892-1983)

aus "Die Wegbereiter" Juni 2021