Die Menschwerdung Jesu, ein logisches Geheimnis

 

Und anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottesfurcht: Gott ist geoffenbart worden im Fleisch. 1.Timotheus 3,16

 

Wohl keine andere Wahrheit im Wort Gottes birgt größere Schwierigkeiten in sich als die Lehre von der Menschwerdung Jesu. Paulus bezeichnete sie als "Geheimnis der Gottesfurcht". Spätere Autoren gingen entweder stillschweigend über diese Problematik hinweg, oder aber sie verirrten sich in einem Labyrinth aus Erklärungen, die nur wenig zum Verständnis dieses Geheimnisses beitrugen. Es ist für uns leicht erkennbar, warum das so ist.

 

Die Menschwerdung Jesu bringt uns dem Geheimnis des Seins nahe. Sie betrifft fast jede Stufe des menschlichen Denkens und stellt Ansprüche an Philosophie und Metaphysik sowie an die Theologie. Große Gelehrte bekommen ein Gespür für dieses tiefe Geheimnis, wenn sie sich eingehend damit befassen, und dann umrunden sie es wie auf Zehenspitzen und voller Ehrfurcht. Das ist nur recht und billig für uns, die wir nur Staub und Asche sind.

 

Auch auf die Gefahr hin, dass man mir unentschuldbare Kühnheit vorwirft, wage ich trotzdem die Behauptung: Obwohl die Menschwerdung Jesu ein Geheimnis ist, ist sie weder unlogisch, noch widerspricht sie der Vernunft. Ich maße mir nicht an, diese tiefgründigen und furchterregenden Geheimnisse auflösen zu können, die zu allen Zeiten die Stimmen verstummen und Menschen wie Engel in Anbetung auf die Knie sinken ließen. Dennoch wage ich die Behauptung, dass die Menschwerdung Gottes von seinem Standpunkt aus ganz und gar vernünftig war. Das Wesen und die Pläne Gottes wurden dadurch nicht beeinträchtigt. Diese Überzeugung begründe ich so:

 

Der Mensch wurde ursprünglich nach dem Bild Gottes geschaffen. "Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn" (1. Mo. 1,27). Das ist eine grundlegende Lehre des christlichen Glaubens. Man muss nicht unbedingt alle damit verbundenen Implikationen verstehen, denn sogar hier stoßen wir auf echte theologische Verständnisprobleme. Aber der Glaube vermag Höhen zu erklimmen, die der Verstand nie erreichen kann. Wir brauchen der Wahrheit bloß zu glauben. Ihre Macht über uns hängt davon ab, dass wir an sie glauben, nicht, dass wir sie vollkommen verstehen. Alles, worauf es ankommt, ist diese Tatsache: Der Mensch wurde nach dem Bild Gottes geschaffen.

 

Nun, wenn der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen wurde, muss Gott auch etwas vom Bild des Menschen in sich tragen. (Auch wenn die Sünde dieses Bild entstellt und ein fremdes, zerstörerisches Element in das Wesen des Menschen eingepflanzt hat, wird dieses Argument nicht entkräftet.) Wenn ein Junge wie sein Vater aussieht, folgt daraus, dass der Vater auch seinem Sohn ähneln muss. Irgendwo im Wesen des Menschen, auch wenn es verbogen und verformt ist, verbirgt sich die Gottähnlichkeit. Jeder, der sich in der Bibel auskennt, wird diese Tatsache nicht ernsthaft infrage stellen, kein Theologiestudent wird sie leugnen, auch wenn er meine Schlussfolgerungen vielleicht nicht teilen kann.

 

Wenn sich Gott in seiner unendlichen Liebe auf die Stufe des Menschen begeben und ihn vom Wesen her gottähnlich geschaffen hat, ist es dann nicht nachvollziehbar, dass Gott selbst im Geheimnis der Menschwerdung das Menschsein angenommen hat, ohne dabei Gegensätzliches miteinander zu vereinen?

 

Wenn das Wort Fleisch geworden ist, dann war Jesus im Menschsein zu Hause. Er fühlte sich nicht fehl am Platze. Hatte er schließlich nicht gehört, wie der himmlische Vater sagte: "Lasst uns Menschen machen in unserem Bild, uns ähnlich" (1. Mo. 1,26)? Die Menschwerdung Jesu war kein Schock, kein Schmerz, wie er entsteht, wenn man die Verbindung von zwei ungleichen Wesensarten erzwingt.

 

Meiner bescheidenen Meinung nach hat man das Element des "Exils" im Erdenleben unseres Herrn maßlos übertrieben. Dass er traurig, einsam und fern von seinem Zuhause war, ein Fremder in einem fremden Land, ist eine Vorstellung, die nicht unbedingt den Tatsachen entsprechen muss. In den biblischen Berichten über sein Leben findet sich nichts, was den Eindruck erweckt, dass seine Existenz als Mensch für ihn eine unnatürliche oder schmerzhafte Erfahrung war. Voller Freude bezeichnete er sich als "Sohn des Menschen", nicht aber als im Exil unter Menschen Lebender.

 

Mit diesen Ausführungen will ich nicht versuchen, das Geheimnis der Menschwerdung oder die Ehrfurcht zu schmälern, mit der wir dieses Wunder betrachten, als das Wort Fleisch wurde, um unter uns zu wohnen. Mir geht es vielmehr darum, unerlaubte Spekulationen aus dem Weg zu räumen, damit die Schönheit der Menschwerdung Jesu bei uns ihren eigenen Eindruck hinterlassen kann. Dieser Eindruck ist auch ohne Ausschmückung schon nachhaltig genug.

 

Andacht zum 11. Tag