Otto Stockmayer

Heilmittel gegen unsere Unarten

 

Und vergib uns unsere Schulden, wie wir unseren Schuldigern vergeben? Matthäus 6,12

 

 

Wodurch hat uns Christus erlöst? Dadurch, dass er alle Ungerechtigkeit der Menschen auf sich nahm und sich niemals beklagte. Wir brauchen keine Sünde zu büßen - das hat unser Heiland getan -, aber Gott braucht das Zukurzkommen unseres Bruders, um uns unsere eigenen Rückstände unserem Gott gegenüber zum Bewusstsein zu bringen.

 

Sieh, wie weh es dir tut, wenn der Bruder dich zurücksetzt, und wie bist du mit deinem Gott umgegangen? Vielleicht weiß der Bruder gar nicht, dass er dir weh getan hat. Merke doch endlich, dass du in Gottes Hand bist und dass niemand dir einen Nadelstich zufügen darf ohne Gottes Willen! Es fällt kein Tropfen Wermut oder bittere Arznei in unseren Becher ohne Gottes Willen, d.h. kein Tropfen, der nicht ein Heilmittel sein könnte gegen unsere Unart, der nicht zugelassen wäre, uns zu wecken, zu reinigen oder in die Tiefe zu führen, damit wir durch das, was uns seitens unseres Bruders so weh tut, unserer an Gott und den Brüdern begangenen Unart auf die Spur zu kommen.

 

Das Vergeben und Tragen wird leicht, ja kann sogar süß und selig werden, wenn wir in denen, die uns Unrecht tun, Mitarbeiter an unserer Seligkeit sehen, Mitarbeiter an der Ausgestaltung des vollen Heils. Nicht nur muss alles zum Besten dienen, sondern es dient buchstäblich alles zum Besten. Es ist eine ganze Werkstatt, wo alles unter einer Leitung steht zur Erreichung eines ganzen Erfolgs, zur Erreichung dessen, was Gott sich vorgenommen, nämlich die Umgestaltung eines adamitischen Wesens in die Gestalt Christi - von Herrlichkeit zu Herrlichkeit aus Gnade in Gnade - nicht mit einem Schlag, aber auch nicht ziellos ins Blaue hinein. Zielbewusst arbeitet der Herr an der Umgestaltung unseres Wesens, der Ausbildung und Zubereitung zur Wohnungnahme im Vaterhaus.

 

Wenn wir das einmal erkennen, sehen wir hinter der Hand des Bruders die Hand des Vaters. Dann ist das Ertragen nicht mehr so schwer; dann gibt man dem Bruder zurück, aber nicht Schlag für Schlag, man häuft feurige Kohlen auf sein Haupt. Solche brennen; aber das können wir ihm nicht ersparen. Diese Art Rache ist erlaubt; aber man kann die Gelegenheit dazu nicht, wie man sagt, vom Zaun reißen, sondern muss warten, bis uns Gott den Bruder in die Hand liefert, wo er es sich gefallen lassen muss, sich einen Dienst von uns erweisen zu lassen. Wir tun es dann ganz einfältig, ohne ihm irgend etwas aufzurücken. "Vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unseren Schuldigern!" 

 

aus "Die Gnade ist erschienen" von Otto Stockmayer, 5. Oktober