Otto Stockmayer aus "Die Gnade ist erschienen"

Haben wir wirklich Christi Sinn?

 

Denn so jemand ist ein Hörer des Worts und nicht ein Täter, der ist gleich einem Mann, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut. Denn nachdem er sich beschaut hat, geht er davon und vergisst von Stund an, wie er gestaltet war. Wer aber durchschaut in das vollkommene Gesetz der Freiheit und darinnen beharrt und ist nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seiner Tat. 

 Jakobus 1,23-25

 

Wenn es sich darum handelt, den ganzen Christus in sich aufzunehmen, so erhebt sich aber sofort eine große Schwierigkeit. Wir haben so lange das Bild des alten Adam getragen, uns im Eigenen bewegt, haben so viel aus unserer adamitischen Natur in unser Christenleben hereingeschleppt, dass wir nur ganz langsam aufwachen und es uns nur ganz allmählich zum Bewusstsein kommt, wieviel in unserem Charakter, in unserer Denkungs- und Handlungsweise nicht mit Christi Art stimmt; deshalb müssen wir uns wohl in acht nehmen, nicht allzu schnell dem Apostel nachzusprechen: "Wir aber haben Christi Sinn!" Fragen wir uns einmal ernstlich vor Gottes Angesicht: Haben wir wirklich Christi Sinn?

 

Sind wir schon gründlich durchgeschulte Leute? Der Herr sagt: "Kommet her zu mir und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig!" Was er ist, das will er auch uns lehren, darin will er uns unsererseits ausbilden. Sind wir sanftmütig und von Herzen demütig wie er, das uns vor Augen gestellte Urbild? Er will es mit uns dahin bringen; es ist sein ausdrücklicher Wille, dass wir es werden. Wie gesagt, da kommt die große Schwierigkeit im Leben des Gläubigen, und leider scheitert die innere Entwicklung vieler daran. Das Schriftwort, das wir heute gelesen, kann uns aber über diesen toten Punkt hinweghelfen.

 

Es ist hier zunächst die Rede von einem Mann, der sich im Spiegel beschaut und vergisst, wie er aussieht, was an seiner Gestalt nicht in Ordnung ist. Ein anderer aber bleibt stehen, er kommt nicht darüber hinweg, dass der Spiegel ihm unangenehme Dinge in seinem Bild zurückwirft, er bleibt und bleibt und bleibt stehen, bis - ja dieser wunderbare Spiegel, der hier gemeint ist - bis sein Bild und seine Gestalt sich verändert und erneuert und das Hässliche schwindet.

 

Der Spiegel, in den wir hineinschauen, ist das Wort Gottes, und dieser Spiegel strahlt uns ein Doppelbild zurück, unser Bild und Christi Bild, unseren Schmutz, unsere vermeintliche Hoheit, unseren Hochmut, unsere Ungerechtigkeit und Herzenshärte gegen andere - und seine Milde, seine Demut und Sanftmut; und wenn wir diese beiden Gestalten nebeneinander im Wort Gottes finden und immer mehr erkennen, was wir sind in Gottes Augen und was der Herr ist, so liegt darin schon ein Geheimnis der Reinigung und Verwandlung. Wer da einmal den Weg weiß, der kann nicht neuen Schmutz an sich entdecken und neue Herrlichkeit in Jesus, ohne damit zu der Quelle zu gehen, wo Vergebung, Reinigung, Lösung und Heilung ist.

 

Andacht zum 5. September