Wer ist denn mein Nächster?

Was ihr getan habt einem unter diesen Meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan.  Matth.25,40

 

„Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt Mich gespeist; Ich bin durstig gewesen, und ihr habt Mich getränkt; Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt Mich beherbergt, nackend, und ihr habt Mich gekleidet, krank, und ihr habt Mich besucht. Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu Mir gekommen. – Was ihr getan habt einem unter diesen Meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan“ (Vers 35.36.40)

 

Aus den Werken, die Christus hier aufzählt, können wir etwas über das weite Feld christlicher Wohltätigkeit lernen. Wir merken, dass Er hier eine nach außen gerichtete Tätigkeit gutheißt; Er redet nicht nur von dem Guten, das ein jeder innerhalb seines Hauses tun kann, sondern Er sagt auch: „Ich bin krank gewesen, und ihr habt Mich besucht.“ Es ist darum betrüblich, wenn unter Christen sehr unterschiedliche Meinungen über die Frage bestehen, inwiefern wir die Not aufsuchen sollen oder nur warten, bis sie an unsere Tür klopft.

 

Der eine beklagt, dass er an einen häuslichen Beruf gebunden sei und dadurch keine Gelegenheit habe, gute Werke zu tun, nicht bedenkend, dass wir ja gerade im Hause, unter den uns am nächsten Stehenden, die meisten guten Werke üben müssen.

 

Andere, die auch Christen sein wollen, verwerfen jede ausgedehntere Wirksamkeit und beschränken ihre Wohltätigkeit ausschließlich auf die Allernächsten. Wo man aber nicht darauf aus ist, seine eigene Gemächlichkeit zu verteidigen, sondern wirklich die Wahrheit sehen will, wird man aus den Worten Christi „Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt Mich besucht“ - wie auch aus dem allgemeinen Gebot der Liebe „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ - hinreichend überzeugt werden, dass jeder Christ, je nach Gelegenheit und Vermögen, allen Menschen dienen soll, nicht nur seinen Hausgenossen und Freunden - „denn tun nicht die Zöllner auch also?“ -, sondern auch denjenigen, die außerhalb sind.

 

Es gab auch zur Zeit Jesu einen Mann, der sich dem Gebot der Liebesbeweisung gegen den Nächsten entziehen wollte und darum fragt: „Wer ist denn mein Nächster?“ Christus aber zeigt in Seinem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, dass man allen Menschen dienen soll, auch dort, wo ein solcher Abstand wie zwischen den Juden und den Samaritern besteht. Beachte dies! Es sind sehr gute und Gott wohlgefällige Werke, wenn du durch den Glauben zuerst mit deinem Heiland Freundschaft hältst und alsdann mit Geduld und Treue deinen häuslichen Pflichten obliegst, sei es als Befehlender, z.B. als Hausvater oder Hausmutter, sei es als Gehorchender, als Kind oder Diener. In jedem Stande hat man viele gute Werke auszuüben, die oft viel Geduld und Überwindung erfordern.

 

Kannst du darin treu aushalten, so sind sie alle Gott wohlgefällige Werke; denn sie sind vom Herrn selber befohlen und verordnet.

 

Kannst du aber außerdem noch denen dienen, die außerhalb des Hauses in geistlicher oder leiblicher Notlage, krank, arm oder unwissend sind, so siehst du hier, dass Jesus eines Tages diese Weise so rühmen will, dass Er sagen wird: „Ich bin krank gewesen, und ihr habt Mich besucht; Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu Mir gekommen.“

 

Kurz: „Eines Christen Werke haben keinen Namen“, sagt Luther, das heißt, ein Christ tut keine bestimmten Werke wie die Heuchler, die ein gewisses Werk auswählen, und außer diesem erhält man nichts Gutes von ihnen.

 

Ein Christ hat Liebe, und durch sie tut er allerlei Gutes, nach den Worten Jesu: „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.“ Er hat die große Gnade, in der Freundschaft Gottes und unter einer ewigen und beständigen Vergebung zu leben, solange Gott den Bürgen, Seinen geliebten Sohn, nicht verwirft.

 

Dazu kommt, dass Christus unsere geringen Werke mit einem solchen Wohlgefallen betrachtet, dass Er sagen wird: „Das habt ihr Mir getan.“ Wie lieblich ist es dann, im Großen und im Kleinen auf Ihn zu blicken und bei sich zu sprechen: „Um des Heilands willen will ich jetzt diesem Armen ein Kleidungsstück geben; um des Heilands willen will ich jenem Unwissenden ein heilsames Wort sagen; um des Heilands willen will ich jetzt mit diesem meine Geduld prüfenden Menschen Nachsicht üben und ihm ein freundliches Antlitz zeigen und ein gutes Wort gönnen; um des Heilands willen will ich mich der Mühe unterziehen, diesen oder jenen Elenden zu besuchen“ usw.

 

Wenn ich den Trost des Glaubens und Liebe in meinem Herzen habe, dann ist alles eine Lust. Es wird uns dennoch scheinen, als hätten wir nichts getan, so dass wir, wenn der Herr aufzählt, was wir Ihm getan haben, antworten werden: „Wann waren wir so glücklich, Dir dienen zu dürfen?“

 

Aber dann wird Er bekräftigend erklären: „Wahrlich, Ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen Meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan.“

 

Lass mich an anderen üben,

Was Du an mir getan,

Und meinen Nächsten lieben,

Gern dienen jedermann

Ohn’ Eigennutz und Heuchelschein,

Und wie Du mir erwiesen

Aus reiner Lieb allein.

 

 

Aus ‘‘Tägliches Seelenbrot‘‘ von Carl Olaf Rosenius

(herausgegeben von LUTH. MISSIONSVEREIN SCHLESWIG-HOLSTEIN E.V. http://www.rosenius.de)