C. O. Rosenius - Tägliches Seelenbrot
In den Augen Gottes ein Totschlag!
Du sollst nicht töten! 2. Mose 20, 13
Wenn wir die Erklärung Jesu über dieses Gebot (Matth. 5) recht beachten, dann werden wir finden, dass der Blick und die Gedanken Gottes etwas tiefer als die unsrigen gehen, dass nämlich Gott den inwendigen Menschen ansieht und dass der große Schöpfer und Vater der Geister unseren Geist, unser Herz, unsere innersten Gedanken vor Augen hat. Er meint mit dem Worte „nicht töten“ viel mehr, als dass du einem Menschen nicht das Leben rauben sollst.
Er sieht nicht nur auf deine Hand, sondern auf dich, dein ganzes Wesen, dein Herz, deine Gemütsbewegungen, deine Zunge, deinen Blick, deine geheimste Meinung, ja auf deine Liebe oder Lieblosigkeit. Denn Er sagt: „Du sollst nicht töten.“
Und was bedeutet das Wort „du“? Wahrlich nicht deine Hand, deine Zunge oder ein besonderes Glied, sondern gewiss den ganzen Menschen, und in erster Linie die Seele. Wenn ich sage: Du sollst das oder das nicht tun, so rede ich ja nicht zu der Hand, sondern zu der ganzen Person. Und wenn ich auch sagte: Deine Hand soll das nicht tun, so spräche ich dennoch eigentlich nicht zu der Hand, sondern zu dir selber, zu deiner Seele, deinem Verstand und Herzen, die der Hand befehlen; denn die Hand ist nur eine Dienerin unter der Seele, unter dem Verstand und dem Willen. So können wir verstehen, dass Gott den inwendigen Menschen ansieht. Darum bedeutet das Wort „Du sollst nicht töten“ dasselbe, wie wenn Er sagte: Alles, was in dir ist, soll nicht töten.
Wie viele Arten des Tötens man auch immer erdenken mag — sei es mit der Hand, der Zunge, dem Herzen oder mit Zeichen und Gebärden, mit zornigen Blicken oder mit den Ohren, die nicht leiden, dass von jemandem gut gesprochen wird —, dieses alles heißt töten.
Damit ist das Herz und alles in dir so gesinnt, dass du vor den Augen Gottes ein Mörder bist. — Beachte dies!
Um nun alles das, was im fünften Gebot verboten wird, zu sammeln und zusammenzufassen, so finden wir zuerst die Tat selbst, den Totschlag. Kein Mensch als solcher hat das Recht, das Leben irgendeines Menschen zu verkürzen. Wenn die Obrigkeit jemanden am Leben straft, so ist das nicht die Tat eines Menschen, sondern Gottes, der in Seinem Gesetz ausdrückliche Befehle über die Hinrichtung des Menschen gegeben und dazu die Obrigkeit verordnet hat, auf dass sie nicht umsonst das Schwert trage; denn sie ist „Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut“, wie Paulus in Röm. 13, 4 schreibt.
Gott verbietet jeden noch so kleinen Anfang zum Totschlag, auch wenn die Tat nicht ganz vollendet wird. Denn schon der bloße Zorn des Herzens, der gewöhnlich nicht verborgen bleiben kann, sondern sich zum mindesten durch ein finsteres Angesicht oder in bitteren Worten und Gebärden, vielleicht auch nur durch ein bloßes Seufzen äußert, ist nicht nur sündig vor den Augen Gottes, sondern ist auch ein in der Tat begonnener Totschlag.
Kurz: Alles, was jemals in einem bitteren, gehässigen, neidischen, rachgierigen und lieblosen Sinn gedacht, geredet oder getan wird, ist eine Sünde gegen das fünfte Gebot — ist in den Augen Gottes ein Totschlag.
Hier straft z.B. ein Vater in zügellosem Zorn sein Kind. Gewiss ist er die rechte Person, die es strafen soll; aber wir reden von dem Vater, der es nicht aus Liebe, aus Eifer und Fürsorge um das Wohl des Kindes, sondern aus Zorn, in gereizter Stimmung oder zügelloser Wut tut. Im Augenblick der Bestrafung bedenkt er nicht, welchen Schaden sein Kind an Leib und Seele nehmen kann. Er sucht nur seine Leidenschaft zu befriedigen. Steht dieser Vater nicht wie ein Mörder seines Kindes da?
Dort überschüttet eine erzürnte Mutter mit der Leidenschaft ihres Herzens früh und spät ihr Kind mit unausgesetzten und planlosen Zurechtweisungen und Strafen für kleinere oder größere Versehen und bedenkt nicht, welche glühenden Kohlen sie dadurch auf die geistlichen und leiblichen Lebenskräfte ihres Kindes legt. Was ist eine solche Mutter vor Gott? Wir reden von einer, die nur von zügellosem Zorn beherrscht wird. Sie ist nichts anderes als eine Mörderin ihres Kindes.
Hier tobt ein Mann in wildem, unaufhaltsamem Zorn gegen seine Gattin, für die er alle Zärtlichkeit und Liebe, alle Verträglichkeit und Nachsicht an den Tag legen sollte, dort plagt eine boshafte Frau ihren Mann Tag und Nacht mit bitteren, stechenden Worten oder mit einem kalten, lieblosen Wesen.
Was ist nun alles das vor den Augen Gottes?
Es ist nicht nur vor den Augen Gottes, sondern in der Tat und in Wirklichkeit nichts anderes als angefangener Totschlag!
All dieser Zorn, diese schonungslose Bitterkeit gegen die Mitmenschen — wie sollen sie dem milden, barmherzigen Herrn gefallen?
Aber zu den Taten, mit denen wir einen Totschlag anfangen, gehört auch, dem Nächsten seine Nahrung zu rauben oder dem leiblich Bedürftigen nicht zu helfen. Wenn die Schrift sagt: „Wer einem seine Nahrung nimmt, der tötet seinen Nächsten“, so liegt darin auch, dass, wenn du deinen Nächsten Not leiden siehst, du aber dein Herz vor ihm zuschließest und ihm nicht das gibst, was er zu seinem Leben braucht, du dann alles tust, was in deinen Kräften steht, um ihn zu töten.
Denn wenn alle ebenso handelten wie du, dann würde der Notleidende wirklich getötet. Bist du dann nicht an dem Totschlag beteiligt, und hast du nicht auch in der Tat Anteil an einem Mord, genauso wie der, der seinen Nächsten in Feuers- oder Wassersnot sieht und ihm nicht zu helfen sucht?
Aus ‘‘Tägliches Seelenbrot‘‘ Andacht zum 28. Februar von Carl Olaf Rosenius
(herausgegeben von LUTH. MISSIONSVEREIN SCHLESWIG-HOLSTEIN E.V. http://www.rosenius.de)