C.O. Rosenius
Die Erkenntnis meiner eigenen Sündennöte
Die Sünde erkannte ich nicht, außer durch das Gesetz. Denn ich wusste nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht gesagt hätte: „Lass dich nicht gelüsten!“ Röm.7, 7
Betrachten wir zuerst die Worte: „Die Sünde erkannte ich nicht, außer durch das Gesetz.“ Dies ist eine allgemeine Tatsache, von der der Apostel schon Kap.3, 20 gesagt hat: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ Aber hier lehrt er uns nun auch, wie und wann wir durch das Gesetz die Sünde erkennen lernen. Obwohl wir alle Erkenntnis im Gesetz Gottes haben, erkennen wir doch nicht alle die Sünde. Die ganze Welt schläft sicher in ihren Sünden. Wer aber seine Sünde nicht erkennen lernt, kann auch keine Erlösung von ihr suchen, sondern wird schließlich „in seinen Sünden sterben“. Bei aller Erkenntnis und Klugheit und allem Glauben an Gottes Wort ist es unmöglich, dass jemand Jesus recht annehmen kann, ohne die Sünde so zu fühlen, dass er „durch das Gesetz getötet wird“. Erst dann kann er in Christus lebendig und ein neuer, aus Gott geborener Mensch werden.
Darum ist es eine wichtige Frage: „Wie und wann lerne ich meine Sünde recht erkennen?“
Der Apostel sagt: Dies geschieht erst dann und dadurch, dass du die Lust erkennen lernst.
„Die Sünde erkannte ich nicht, außer durch das Gesetz; denn ich wusste nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht gesagt hätte: Lass dich nicht gelüsten!“ Damit sagt er also, dass er die Sünde nicht erkennen konnte, bevor er nichts von der Lust wusste. Was er aber mit diesem „von der Lust wissen“ meint, das merken wir auch aus seiner weiteren Erklärung, dass es nämlich bedeutet, „die Begierde als Sünde zu erkennen“. Er sagt: „Ich wusste nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht gesagt hätte: Lass dich nicht gelüsten!“ Wir merken daraus erstens seinen Aufschluss darüber, dass schon die Begierde Sünde sei; denn das lernte er vom Gesetz, welches sagte: „Lass dich nicht gelüsten!“ Zum andern merken wir aus dem folgenden Vers, dass er auch die tiefere Erkenntnis von der Macht der Begierde über uns im Auge hatte, wie sie sich durch die Erfahrung äußert; denn erklärend fügt er hinzu: „Da nahm die Sünde Ursache (Anlass) am Gebot und erregte in mir allerlei Lust.“
Wir haben jetzt gesehen, dass wir nur dann die Sünde erkennen, wenn wir die Lust erkennen. Aber nun fragt sich: Wann und wodurch lernen wir die Lust erkennen? Wir haben alle von Kindheit an das Gebot gelernt: „Lass dich nicht gelüsten!“ Wir hören und lesen es so oft, und doch schläft die ganze Welt in Bezug auf die Sündhaftigkeit der Lüste. Mancher nimmt das Gesetz vor sich, um darin wie in einem geistlichen Seelenspiegel seine Sünden zu betrachten, aber er erhält dadurch doch keine lebendige Sündenerkenntnis.
Wie und wann aber erhält man diese? Der Apostel sagt, dass es ganz anders zugeht als durch eigenes Unternehmen oder ein menschliches Hineinblicken ins Gesetz.
Er sagt: „Ich lebte früher ohne Gesetz“, und da war die Sünde tot, „da aber das Gebot kam, wurde die Sünde wieder lebendig“. Was mag das bedeuten, dass Paulus ohne Gesetz lebte? Es bedeutet keineswegs, dass er das Gesetz nicht hatte, kannte und gebrauchte. Er war ja von Kindheit an darin unterwiesen und während seines unbekehrten Zustandes ein so eifriges Mitglied der strengsten Religionspartei seiner Zeit, dass er „nach der Gerechtigkeit im Gesetz unsträflich gewesen ist“. Was bedeutet es dann, dass er „früher ohne Gesetz lebte“ und dass dann „das Gebot kam“?
Nichts anderes, als dass er das Gesetz nicht lebendig im Gewissen gehabt, sondern in seinem Werkdienst geschlafen hatte.
Er hatte das Gebot „Lass dich nicht gelüsten!“ weder gesehen noch beachtet. „Das Gebot kam“ bedeutet also, dass das Gesetz in seinem Gewissen zum Leben und zur Kraft gelangte; dadurch wurde er aus dem Sündenschlaf erweckt, indem der heilige Eifer Gottes und Seine heiligen Augen ihm fühlbar nahetraten, ihn jagten und ermüdeten, was er sich auch vornahm.
So geht es zu, wenn wir durch das Gesetz Erkenntnis der Sünde erhalten.
Ein großes und gnadenvolles Werk Gottes ist dazu vonnöten; es ist erforderlich, dass Gott dich heimsucht und dich aus dem Sündenschlaf erweckt; sonst kannst du bei aller Aufmerksamkeit auf das Gesetz doch niemals deine Sünden erkennen lernen.
Der Apostel sagt hier also: Nur das heilige Gesetz, dessen Gebote sich sogar ins Herz hinein erstreckten und sagten: „Lass dich nicht gelüsten!“, öffnete seine Augen, das sonst verborgene Übel, „die Lust“, zu sehen. Und da wurde der „unsträfliche“ Mann bald ein schmählicher Sünder.
Das Gesetz drängte sich mit den heiligen Geboten und Drohungen des großen, allmächtigen Gottes in sein Inneres. Da merkte der in seinem Werkdienste zufriedene Saulus, dass der große Gott in sein Herz hineinblickte und sprach: Du sollst nicht die geringste Lust zum Bösen in deinem Herzen hegen!
Wie wurde da seine ganze Gerechtigkeit zerstört!
Von sündigen Gedanken und Begierden war er nicht frei.
Und als er sich nun auch von diesem inneren Übel befreien, allen bösen Gedanken widerstehen und sie vertreiben und auch im Herzen vor den Augen Gottes heilig sein wollte, da entstand eine neue und schwerere Not, als er sie je zuvor gekannt hatte; denn die Gedanken und die Lüste ließen sich nicht austreiben, sondern wurden immer schwerer, je mehr er sie erkennen lernte und gegen sie ankämpfte.
Die Gnad’ ist genug,
Ob auch das Gesetz dir verkündet den Fluch,
Wenn alle Begierden es in dir erregt
Und jegliche Hoffnung zu Boden dir schlägt;
Dein Heiland ja wirkliche Sünden einst trug;
Ist das nicht genug?
Aus ‘‘Tägliches Seelenbrot‘‘ von Carl Olaf Rosenius
(herausgegeben von LUTH. MISSIONSVEREIN SCHLESWIG-HOLSTEIN E.V. http://www.rosenius.de)