Keine Not, über die nicht Gottes Liebe leuchtet

Friedrich von Bodelschwinghs Ringen mit der Naziherrschaft

Das Jahr 1933 war auch eine Schicksalsstunde für die evangelischen Kirchen in Deutschland. Der totale Staat der Nazis wollte nicht nur das politische, sondern auch das kulturelle Leben unter einer ideologischen Führungsmacht einen. Man sprach damals vom Gleichschalten aller gesellschaftlichen Kräfte.

 

So brach auch in den selbstständigen und zersplitterten evangelischen Landeskirchen, die nebeneinander existierten, wieder der Wunsch nach Bildung einer deutschen evangelischen Gesamtkirche auf. Besonders stark drängte in diese Richtung die Glaubensbewegung der Deutschen Christen, die sich aus Kreisen der Nazis zusammensetzte.

 

Andere mehr am Bekenntnis orientierte Kreise sahen in einer solchen zentralen Einigung der getrennten Landeskirchen eine große Chance, mehr Einfluss im Volk zu gewinnen.

 

War jetzt nicht die Stunde, in der man den Nazichristen zuvorkommen musste und die lang gehegten Pläne einer starken deutschen Einheitskirche verwirklichen konnte? Viele evangelische Kirchenführer suchten deshalb einen Kandidaten, der das breite Vertrauen der verschiedenen kirchlichen Richtungen und Strömungen besaß. So wollte man die Ernennung eines von der Nazi-Ideologie bestimmten Reichsbischofs verhindern.

 

Rasch wurde im Mai 1933 von den Landeskirchen eine gemeinsame Deutsche Evangelische Kirche gebildet, in der die Bekenntnisse unantastbare Grundlage waren. Die Wahl des Reichsbischofs, wie man ihn nannte, fiel nahezu einmütig auf den eher schüchternen Pastor Fritz von Bodelschwingh in Bethel bei Bielefeld. Der sagte gleich, er wolle lieber Reichsdiakon als Reichsbischof genannt werden. Und auch: Es würde nichts nützen, am äußeren Gewand der Kirche zu flicken. Von innen heraus muss sie erneuert werden. Das kann nur geschehen, wenn sie das Wort des Herrn Christus deutlich hört: Ändert euren Sinn! Sinnesänderung wächst heraus aus der Erkenntnis der eigenen Schuld.

 

Bodelschwingh war damals 55 Jahre alt. Von seinem neuen Amt als Reichsbischof musste er schon nach 27 Tagen zurücktreten. Die Naziregierung hatte diktatorisch einen Staatskommissar für die Kirchen der altpreußischen Union eingesetzt, der gleichsam Bodelschwingh übergeordnet war. So wollte der Staat kompromisslos seinen Einfluss auf die Kirche sichern.

 

Die Wahl Bodelschwinghs war schon von Anfang an durch die Partei der Nazichristen heftig bekämpft worden. Sie wollten mit allen Mitteln ihren Kandidaten, Wehrmachtspfarrer Müller, durchsetzen. Sie wurden dabei kräftig durch die völlig von den Nazis beherrschte Presse unterstützt. So war in vielen Zeitungen die Wahl Bodelschwinghs nicht anerkannt worden. Ein schlimmes Kesseltreiben gegen den Pfarrer aus Bethel wurde angezettelt.

 

Diese lautstarke Gegnerschaft hätte Bodelschwingh vielleicht noch aushalten können, wenn da nicht jene Mittelgruppe gewesen wäre, die gutmütig und leichtgläubig meinte, mit dem totalen Anspruch der Nazis Kompromisse eingehen zu können. Die positiven evangelischen Kräfte waren zersplittert und damit schwach.

 

Mit der Einsetzung des Staatskommissars aber waren nun alle legitimen Gremien der Kirche endgültig entmachtet. An die Stelle Bodelschwinghs als Reichsbischof trat jetzt der ganz mit der Naziideologie verbundene Wehrmachtspfarrer Ludwig Müller. Viele weitere Gewaltakte in den Kirchen sollten folgen.

 

Pastor Fritz, wie er meist zur Unterscheidung von seinem Vater genannt wurde, war am 14. August 1877 als Jüngster von vier Kindern geboren worden. Die Eltern hatten vorher schon weitere vier Kinder innerhalb weniger Wochen durch Stickhusten verloren.

 

1910 übernahm Fritz von Bodelschwingh das Werk der diakonischen Anstalten mit vielen Tausend Kranken, das sein Vater nach dem Tod der ersten vier Kinder gegründet hatte. Pastor Fritz brachte das große Werk durch die schwierigen Jahre des Ersten Weltkrieges und der Inflation und baute die Anstalten sogar noch kräftig aus.

 

Bodelschwingh hatte echte geistliche Vollmacht, die sich bei ihm als Leiter bewährte, weil sie aus einer tiefen Liebe zu den Menschen kam. Er hatte die Gabe, auf Menschen seelsorgerlich und warmherzig zuzugehen, weil er ein zartes Einfühlungsvermögen besaß. Das hatte er im Umgang mit den Kranken gelernt, die er seine Zuchtmeister in Glaube und Liebe nannte: "Es liegt nicht an den Kranken, sondern an uns Gesunden, wenn wir mit ihnen keinen Kontakt bekommen."

 

Unter strengster Verschwiegenheit begann HItler im Herbst 1939 mit der Tötung des von ihm als lebensunwert bezeichneten Lebens. Man hat die Aktion mit dem Wort Euthanasie, also würdiges Sterben der unheilbar Kranken, umschrieben.

 

Sobald Anzeichen davon beobachtet werden konnten, enttarnte Bodelschwingh mit einer eindeutig klaren Denkschrift die heimlichen Machenschaften der Tötung Kranker. Er protestierte unbeugsam - aus Rücksicht auf seine Kranken aber nicht lautstark, sondern behutsam - Mitte 1940 zuerst bei Ministern und dann direkt bei Hitler gegen die geplanten Sammeltransporte und das heimliche Morden. Von Anfang an hatte er das Ausfüllen der berüchtigten neuen Fragebögen verweigert und sie unausgefüllt zurückgesandt.

 

Eine von den Nazis bestellte Ärztekommission besetzte die Verwaltung in Bethel und füllte selbst die Fragebögen aus. Der mit der Tötungsaktion betraute Leibarzt Hitlers besuchte mehrmals Bethel, dann wurde die ganze Aktion abgebrochen. Bodelschwingh kämpfte, wie er selbst sagte, den schwersten Kampf seines Lebens. Von den 6.300 Kranken Bethels wurde fast niemand abgeholt.

 

In den letzten Kriegstagen, als schon die amerikanischen Truppen im Anmarsch waren, predigte Pastor Fritz beim Gottesdienst am Karfreitag in der Zionskirche in Bethel über die drei Kreuze auf Golgatha nach Lukas 23,39-43:

 

"Still, ganz still stehen wir da. Das wilde Getümmel dieser Tage weicht für einen Augenblick zurück. Die weltgeschichtlichen Entscheidungen, die sich jetzt vollziehen, verlieren ihr Gewicht gegenüber der heilsgeschichtlichen Entscheidung, die auf Golgatha gefallen ist.

 

Was in den sechs Stunden auf Golgatha geschehen ist, das wirkt in alle Ewigkeit hinein. Gottes größte Taten sind für Menschen immer ein Geheimnis. Wir möchten gern, dass uns heute ein neuer Blick geschenkt wird in das Geheimnis von Golgatha."

 

Und dann sprach Bodelschwingh von der Schuld des Volkes und eines jeden Einzelnen:

 

"Wir empfangen, was unsere Taten wert sind! Diese Unterschrift dürfen wir gewiss auch unter das setzen, was wir in der Geschichte unserer Tage mit tiefem Schrecken erleben. Wie viel hat bei uns am verkehrten Platz gestanden! Nun streicht Gottes Gericht das alles durch. Nun rückt Gottes gewaltige Hand es zurecht. Wir beugen uns unter sein Gericht." 

 

Und er schloss dann mit der Mahnung: "Sage von Herzen Ja zu dem gerechten Gericht Gottes, weil es immer heilig und darum heilsam ist."

 

Und dann:

"Die Karfreitagstrauer verwandelt sich in die Weihnachtsfreude.

Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis.

Der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr und Preis!"

 

In diesem Gottesdienst hat Pastor Fritz von Bodelschwingh das heute viel gesungene Lied, das schon im Jahr 1938 von ihm gedichtet wurde, erstmals öffentlich vorgetragen:

 

1) Nun gehören unsre Herzen ganz dem Mann von Golgatha,

der in bittern Todesschmerzen das Geheimnis Gottes sah,

das Geheimnis des Gerichtes über aller Menschen Schuld,

das Geheimnis neuen Lichtes aus des Vaters ewger Huld.

 

2) Nun in heilgem Stilleschweigen stehen wir auf Golgatha.

Tief und tiefer wir uns neigen vor dem Wunder, das geschah,

als der Freie ward zum Knechte und der Größte ganz gering,

als für Sünder der Gerechte in des Todes Rachen ging.

 

3) Doch ob tausend Todesnächte liegen über Golgatha,

ob der Hölle Lügenmächte triumphieren fern und nah,

dennoch dringt als Überwinder Christus durch des Sterbens Tor;

und die sonst des Todes Kinder, führt zum Leben er empor.

 

4) Schweigen müssen nun die Feinde vor dem Sieg von Golgatha,

die begnadigte Gemeinde sagt zu Christi Wegen: Ja!

Ja, wir danken deinen Schmerzen; ja, wir preisen deine Treu,

ja wir dienen dir von Herzen. Ja, du machst einst alles neu!

 

Die letzte Christvesper hielt Bodelschwingh 1945 nach 35 Jahren Amtstätigkeit in der Betheler Zionskirche. Dort steht im Blickfeld der vielen Kranken, Behinderten und anderen Gemeindegliedern in den Chorbogen das Psalmwort geschrieben:

Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,

dann werden wir sein wie die Träumenden!

 

Bodelschwingh stellte seine Gedanken unter den selbst gedichteten Vers:

 

Aus tausend Traurigkeiten

zur Krippe gehn wir still,

das Kind der Ewigkeiten

uns alle trösten will.

 

Am 04. Januar 1946 wurde Bodelschwingh, der viel kränker war, als die meisten wussten, heimgerufen in die Ewigkeit.

 Zitat aus "Den Kummer sich vom Herzen singen" von Beate & Winrich Scheffbuch