Morgen, morgen, nur nicht heute...

 

Im Laufe seiner regelmäßigen Hausbesuche hatte ein gläubiger Arzt einem älteren Patienten immer wieder das Evangelium nahezubringen versucht, jedoch ohne Erfolg. Der alte Johann, so hieß der Patient, lauschte der Wahrheit zwar recht aufmerksam und stimmte ihr stillschweigend zu, aber über einen gewissen Punkt kam er nicht hinaus. Wohl konnte er offen zugeben, dass er ein Sünder sei und Gottes Erlösung brauche. Er beteuerte sogar immer wieder, er werde sich eines Tages bekehren. Er wünschte wirklich, gerettet zu werden, jedoch nur um den Strafen der Hölle zu entgehen. Er war sich im klaren, dass er sich auf die Ewigkeit vorbereiten musste, aber wozu denn schon jetzt? Für diese Dinge gab es sicher noch eine gelegenere Zeit.

 

Eines Tages war Johann gerade wieder an einer Bronchitis erkrankt, nicht lebensgefährlich, aber immerhin fühlte er sich erbärmlich schwach und elend. Der Doktor untersuchte ihn und versprach, ihm bei seinem nächsten Besuch ein Medikament mitzubringen, das ihm gewiss helfen werde. Er war gerade im Begriff, sich zu verabschieden, als Johanns Frau noch die Frage an ihn richtete: "Wann muss mein Mann diese Medizin einnehmen?" "Ich werde die Verordnung auf die Etikette schreiben", erwiderte der Arzt. Dann wandte er sich mit einem Schmunzeln auf den Lippen noch einmal an den Kranken und sagte: "Wenn ich mir's recht überlege, so sind Sie eigentlich gar nicht sehr krank. Ich nehme an, dass es reicht, wenn Sie mit der Einnahme der Medizin in einem Monat beginnen."

 

"Was, erst in einem Monat?" riefen die beiden alten Leutchen wie aus einem Munde.

"Ja, warum denn nicht? Ist das vielleicht zu früh?" "Zu früh!? Aber Herr Doktor, in einem Monat kann ich doch schon tot sein!" gab Johann entrüstet zurück. "Nun, das könnte natürlich schon sein, aber bedenken Sie, dass Sie wirklich nicht sehr krank sind. Aber vielleicht ist es doch besser, wenn Sie schon in einer Woche beginnen."

 

"Aber, Herr Doktor" - Johann war ganz verwirrt - "Vielleicht lebe ich nicht einmal mehr eine Woche!"

"Sicher, diese Gefahr besteht immer, doch glaube ich bestimmt, dass Sie in einer Woche noch leben werden. Außerdem haben Sie ja dann die Medizin im Hause. Sie ist haltbar, so dass Sie jederzeit davon nehmen können, wenn sie sich schlechter fühlen sollten."

 

"Herr Doktor, ich kann doch morgen schon tot sein! Und da soll ich noch eine volle Woche warten? Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, wenn ich Ihnen widerspreche, aber ich kann Sie wirklich nicht mehr verstehen. In meinem Alter lässt sich mit solchen Dingen nicht mehr spaßen. Ich möchte auf jeden Fall, dass es nicht schlimmer wird. Was nützt mir die beste Medizin, wenn ich sie nicht einnehme? Da ist doch jeder Aufschub, jede Verzögerung der Anwendung sinnlos, ja unvernünftig!"

 

"Was würden Sie denn vorschlagen?" wollte der Arzt wissen.

"Nun, ich dachte, Sie würden mir verordnen, schon heute damit anzufangen. Herr Doktor."

"Gut, nehmen Sie sie gleich von heute an", beschwichtigte ihn der Arzt freundlich.

 

"Ich wollte Ihnen damit nur etwas klarmachen, nämlich: Was Sie eben zu recht als unvernünftig bezeichnet haben, genau das tun Sie selbst schon seit Jahren mit dem Heilmittel, das Gott Ihnen anbietet. Immer wieder schieben Sie es hinaus, danach zu greifen, und trösten sich damit, Sie hätten ja noch genügend Zeit. Sie sagen: "Vielleicht nächstes Jahr, oder kurz bevor ich sterbe, spätestens dann will ich mit Gott ins Reine kommen." Jeder Zeitpunkt ist Ihnen recht, wenn es nur nicht heute ist.

 

Und doch haben Sie nur gerade dieses Heute in der Hand. Gott sagt: "Seht, jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils" (2. Kor. 6,2). Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr Jesus darauf wartet, auch Sie anzunehmen. Im Grunde wissen Sie dies ja längst. Um es mit Ihren eigenen Worten zu wiederholen: Was nützt die beste Medizin, wenn Sie sie nicht einehmen? Ist es nicht wirklich unvernünftig, ja geradezu dumm, auch nur einen Tag zu warten?"

 

Der alte Johann war sichtlich erschüttert. Tränen standen ihm in den Augen, als er die Hand des Arztes drückte: "Sie haben hart mit mir gesprochen, aber Sie haben recht. Es war wirklich töricht von mir, die Entscheidung so lange aufzuschieben."

aus "Reiseführer vom Tode zum Leben" von Stephen Menzies