Der alte Mann und die Erinnerung
Rolf Müller
Alte Menschen neigen dazu, die „gute alte Zeit“ zu verklären. Da erscheint manches durch den Rahmen der Erinnerung in einem goldenen Licht. Da verliert man leicht den Blick für die Realität. Da meint man, dass „früher“ alles besser war. Man verliert die guten Seiten der Gegenwart aus dem Blick. Man vergisst, dass alle Zeit Gottes Zeit ist.
Dem alten Mann ist das bewusst. Dennoch schaut er manchmal mit etwas Wehmut in die Vergangenheit. Es gab eine Zeit, in der es wenig zu essen gab. Hunger war ein täglicher Begleiter. Da wurde jede Kartoffel und jedes Stück Brot zu einer Kostbarkeit. Da überlegte niemand, welche Mahlzeit zubereitet werden sollte. Da ging es darum, ob überhaupt etwas zu essen vorhanden war. Ähnlich verhielt es sich bei der Kleidung.
Es gab eine Zeit, da konnte man mit Kleinigkeiten eine große Freude bereiten. Da besaß niemand Reichtümer. Da hatte keiner ein Auto. Da war ein funktionsfähiges Fahrrad das höchste der Gefühle. Da ging man überwiegend auch größere Strecken zu Fuß. Da freute man sich über einen Blumenstrauß aus dem Garten oder von der Wiese. Da mussten es nicht unbedingt Orchideen sein.
Der alte Mann erinnert sich, dass die gläubigen Christen in der Regel eine herzliche Beziehung untereinander hatten. Sie freuten sich mit den Fröhlichen und waren traurig mit den Trauernden. Sie halfen sich gegenseitig. Sie tauschten sich aus über geistliche Fragen, aber auch über alltägliche Probleme. Sie waren eine große Familie. Bei regelmäßigen Bibelwochen und Evangelisationen war der Versammlungsraum überfüllt. Es wurden Außenstehende eingeladen und sie kamen. Wenn die Stühle nicht reichten, saßen die jungen Leute manchmal auf dem Kachelofen, oder auf den Fensterbrettern und auf dem Fußboden. Das biblische Evangelium wurde klar und verständlich gepredigt. Gott segnete sein Wort. Menschen kamen zum Glauben an Jesus.
Mit dem ständig steigenden Lebensstandard verringerte sich der Zusammenhalt in der Gemeinde. Die materiellen Möglichkeiten wirkten sich nachteilig auf die Gemeindearbeit aus. Die Gemeinsamkeit mit den Glaubensgeschwistern verblasste. Es war nicht mehr die Mehrheit der Gläubigen, die regelmäßig die Versammlungen besuchte. Nur wenige erklärten sich zur Mitarbeit bereit. Man war noch mit der Gemeinde verbunden, wollte aber nicht mehr verbindlich sein.
Es kam eine Zeit, da waren Großveranstaltungen aktuell. Eine Konferenz löste die andere ab. Man war dauernd unterwegs und konnte viel erleben. Darunter litt oft die Gemeinde vor Ort. Dazu kamen die modernen Medien. Man konnte jederzeit bekannte Prediger zu Hause auf dem Sofa hören. Die Auswahl war riesig. Wozu sollte man sich da noch auf den Weg in die Gemeinde machen? Da konnte man doch auf die persönliche Begegnung mit den Geschwistern verzichten.
Wie sieht es heute in der Gemeinde Jesu aus? Steht der Herr noch im Mittelpunkt oder hat der Zeitgeist Einzug gehalten? Wird das Evangelium verkündigt oder beschäftigt man sich mit Umweltschutz und Klimawandel?
Die Umstände haben sich geändert. Die Herausforderungen in Politik und Gesellschaft sind größer geworden. Der alte Mann erinnert sich, dass es eine Zeit gab, wo es auch für Frauen normal war, bei Dunkelheit allein nach Hause zu gehen. Wo man weder Messerattacken zu befürchten hatte noch damit rechnen musste, an der Bushaltestelle überfahren zu werden. Bei Großveranstaltungen sah man Ordner mit Armbinden, aber kaum Polizei. Man konnte sorglos den Weihnachtsmarkt besuchen. Wohin ist das alles?
Der alte Mann ist in der Gegenwart zurück. Wer nicht verblendet ist, sieht überall die in der Bibel angekündigten Zeichen der Endzeit. Der christliche Glaube verdunstet mehr und mehr, die Gottlosigkeit nimmt überhand. Die biblischen Prophetien erfüllen sich vor unseren Augen. Für die Gottlosen wird es ein schreckliches Erwachen geben. Auf die an Jesus Christus Gläubigen wartet eine herrliche Zukunft.
Mit Ernst, o Menschenkinder,
das Herz in euch bestellt,
es kommt das Heil der Sünder,
der wunderstarke Held,
den Gott aus Gnad allein
der Welt zum Licht und Leben
versprochen hat, zu geben,
bei allen kehren ein.
(Valentin Thilo).