Chamäleon
Rolf Müller
Ich bin ein guter Mensch und Staatsbürger. Ich tendiere nach links und nach rechts und passe mich an. Bei der Wahl gebe ich meine Stimme nicht ab. Ich bin Sänger und brauche sie noch.
Ich trenne gewissenhaft den Müll, vorausgesetzt, die Müllabfuhr ist pünktlich. Andernfalls werfe ich den Müll in den Fluss oder entsorge ihn im Wald. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Ich hasse meine Nachbarn, aber lasse es mir nicht anmerken. Ich grüße sie freundlich, lächle sie an. Ich heuchele Mitleid, wenn ihnen etwas Schlimmes widerfährt, aber innerlich hüpft mein Herz vor Freude.
Ich begrüße es, wenn Migranten und Flüchtlinge ins Land kommen, aber in meine Wohnung würde ich sie nicht lassen. Das wäre ja noch schöner. Wo kämen wir denn da hin!
Ich bin eigentlich ein guter Mensch, aber dass ich Christ bin, braucht keiner zu wissen, das halte ich geheim. Ich halte mich bei den Gottlosen auf und sitze, wo die Spötter sitzen.
Ich würde Notleidenden notfalls alles geben, aber es eilt mir damit nicht, vorerst gebe ich gar nichts. Man kann ja nicht für alles Mögliche spenden, man kann die Nächstenliebe auch übertreiben.
Im Großen und Ganzen bin ich ein rechtschaffener Zeitgenosse. Ich passe mich am und lasse mich treiben. Ich bemühe mich, nett zu sein, doch wie es drin aussieht, geht niemand was an.
Am Schluss eine Bitte: Sagen Sie es nicht weiter. Reden ist Schweigen und Silber ist Gold (oder so ähnlich).