Fernschach

 

Rolf Müller

 

Es ist sicher ungewöhnlich, dass man sich nach 30 Jahren im Ruhestand noch an den Vater eines ehemaligen Arbeitskollegen erinnern kann, den man nur ein einziges Mal gesehen hat.

 

Mein Kollege Peter hatte ein paar Leute zu sich nach Hause eingeladen. Seine Eltern hatten einen Farbfernseher gekauft. Das war damals noch eine Seltenheit und Peter wollte seine Freunde an diesem Glück teilhaben lassen. Sie schauten sich interessiert einen Kriminalfilm an, als das Unerwartete geschah.

 

Peters Vater, nennen wir ihn Martin, ging zum Gerät, als der Film sich dem Höhepunkt näherte, schaltete den Fernseher aus, stülpte eine Stoffhülle darüber und sagte: "Der Apparat muss jetzt geschont werden!"  Betröpfelt verabschiedeten sich die Besucher, ohne zu wissen, wer der Mörder war.

 

Der alte Mann beschäftigte sich damals etwas intensiver mit dem Schachspiel. Er spielt mit seinem Sohn und mit dem Schwager, aber er suchte nach einem ebenbürtigen Gegner. Peter erzählte, dass sein Vater vor Jahren den sowjetischen Großmeister Bogoljubow bei einem Turnier besiegt hatte. Ich bat Peter, seinen Vater Martin zu fragen, ob er mit mir eine Partie Fernschach spielen würde.

 

Beim Fernschach müssen die Partner sich nicht persönlich gegenüber sitzen, sie spielen von zu Hause aus und übermitteln die einzelnen Züge per Post. Bei unseren Partien konnte Peter den jeweiligen Zug seines Vaters auf einem Zettel mit in den Betrieb bringen und meine Antwort mit nach Hause nehmen.

Peter teilte mir mit, dass sein Vater bereit wäre, gegen mich zu spielen, ich müsste allerdings vorher eine Eignungsprüfung bestehen. Die Prüfungsaufgaben gab mir Peter schriftlich. Es waren Fragen zur Allgemeinbildung, die ich alle bis auf eine beantworten konnte.  Diese eine Frage lautete: In welcher Oper kommt der Text "Alles das gehört dem Herrn, dem Herrn Sebastian!" vor? "Wie heißt die Oper und wer hat sie komponiert?"

 

Martin erklärte sich trotz meiner Unwissenheit bereit, 6 Partien gegen mich zu spielen. Eine Partie ging Remis aus, die anderen verlor ich alle. Nach meinen Recherchen hatte Martin tatsächlich eine Partie gegen Bogoljubow gewonnen. Es war ein Simultanturnier, Bogoljubow spielte gleichzeitig gegen 21 Leute, einer davon war Martin. Habe ich schon erwähnt, dass Martin ein pensionierter Lehrer war?

 

Wegen dieser Begebenheiten ist Martin dem alten Mann in Erinnerung geblieben. Es sind kuriose Bagatellen, die wahrscheinlich niemand sonst interessieren. Deshalb schreibt der alte Mann auch keine Beiträge über die vielen komischen Käuze, die ihm in seinem langen Leben begegnet sind. In diesem Punkt ist der alte Mann ein Gentleman.

 

 

Ein Gentleman ist jemand, der Akkordeon spielen kann, es aber unterlässt.