Vollendete Kraft

 

Jes.40,29: Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.

 

2.Kor.12,9: Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit!

 

Ich folge ja normalerweise nicht der Luther-Übersetzung von 2017, aber in diesem Fall ist sie wirklich treffend. Als Schulnote ist, „ausreichend“ ja gerade das nächstbeste über „mangelhaft“, was wohl niemand von der Kraft der Gnade Gottes behaupten will.

 

Wir sollten „genügen“ nicht mit „begnügen“ verwechseln, was leider allzu leicht der Fall ist. Wir sollten auch die klassische Formulierung „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ nicht reduziert verstehen. Die Kraft der Gnade Gottes folgt einem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Wenn Gott sagt: Meine Gnade reicht für dich aus, ist das eben nicht „ausreichend“, sondern präzise passend.

 

Meine Wahrnehmung ist sehr oft auf die schiere Menge ausgerichtet; vielleicht fällt daher oft die Kraft seiner Gnade durch mein Raster. Aber wenn Gott mich für die Dinge, in denen ich seine Kraft brauche, mit der Statur eines Hulk Hogan ausstatten würde, wäre es dann nicht doch viel zu schnell wieder vermeintlich meine eigene Kraft? Paulus erkennt, daß Gott ihm genau deswegen den „Pfahl im Fleisch“ nicht wegnimmt.

 

Der Hebräerbrief schlägt ein anderes Prinzip vor: Lauf zum Gnadenthron und sag dem, der drauf sitzt, für was du die Kraft seiner Gnade brauchst, und alles weitere überlass ihm! In diesem Sinne formuliert Jesaja „Stärke genug“. Vielleicht liegt die Betonung nicht auf „Stärke“, sondern auf „genug“?

 

Für Corrie ten Boom war das wohl auch schwer zu verstehen. Ihr Vater sagte dann: Wenn du mit dem Zug fährst, wann gebe ich dir dann die Fahrkarte? <> Na, wenn ich einsteige. <> Siehste.

 

Wenn Gottes Kraft sich in meiner Schwachheit vollendet, dann müsste diese Schwachheit doch mein großer Vorteil sein. Warum ist sie es so selten? Bin ich nicht bereit, sie vor Gott zuzugeben? Vielleicht kommt Gott an dieser Stelle meinem Selbstbetrug auch nur mit einer ähnlich ironischen Bemerkung bei, wie sie Jesus gegenüber den Pharisäern macht: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht“.

 

Mit Paulus geht Gott sehr ehrlich, darin aber auch schon sehr gnadenvoll um. Die heilsame

Erkenntnis des Paulus ist dann, daß Gottes Segen eben nicht in der Beseitigung seiner Bedürftigkeit besteht, sondern im Ausfüllen seiner Bedürftigkeit mit der Kraft der Gnade Gottes. Im Philipperbrief, den ich persönlich für einen der letzten Paulus-Briefe halte, fasst er seinen Weg mit Gott in dem Satz zusammen: „Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen“. In diesem Brief unter deutlich erschwerten Haftbedingungen schildert Paulus wie kaum je sonst, wie tief Gott seine Seele versorgt.

 

Gottes „Genügen“ hat eben mit „Begnügen“ gar nichts zu tun.

 

 

Gedanken und Auslegung von Bruder Jens Döhling  16.02.2025

 

 

 

pdf4 05-Doehling_Vollendete Kraft (16.02.2025)